Ende September wurde zum 33. Mal der Kasseler Bürgerpreis „Glas der Vernunft“ verliehen. Die mit 20.000 Euro dotierte Auszeichnung ging an die Publizistin und Autorin Dr. Carolin Emcke. „Mit ihren Diskussionsbeiträgen hat sie den demokratischen Kompass besonnen aus- und das Rückgrat der Demokratie beharrlich aufgerichtet“, so Wilfried Sommer, Vorstandsvorsitzender der Fördergesellschaft. Indem sie schreibe, begebe sich Emcke auf die Suche nach dem, was wahr sei. „Sie findet ihren Rhythmus des Befragens. Er bleibt dialogisch, offenlassend und respektvoll. Ihre Empathie öffnet den Raum für Verständigung und Anerkennung“, hob Sommer hervor.
Für Prinzipien der Aufklärung
Emcke kuratiert und moderiert seit 20 Jahren den „Streitraum“ an der Schaubühne Berlin. 2016 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet – die Liste ihre Preise ist lang. Als Inhaberin der Wuppertaler Poetik-Dozentur für faktuales Erzählen 2023 stellte sie heraus: „Anders lässt sich für mich nicht sprechen und schreiben als mit der eingelassenen Erwartung, dass die Erfahrungen anderer überhaupt zählen, dass sie erzählt werden, weil sie als Menschen zählen, weil sie ein Antlitz haben, das ähnlich oder unähnlich, aber human ist.“ Festrednerin Prof. Mirjam Zadoff sprach auf besonderen Wunsch Emckes über die Menschenwürde.
Die Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München gilt als wichtige Stimme gegen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland. Prof. Dr. Martin Saar hielt die Laudatio. Der zweite Habermas-Lehrstuhlnachfolger am Institut für Philosophie an der Frankfurter Goethe-Universität begleitet Emckes publizistisches Schaffen seit langem.
Carolin Emcke unterstrich: „Ich bin ungeheuer dankbar für die Auszeichnung. In Zeiten der mutwilligen Aufwertung von Aberglauben, Stammeslogik und Ressentiments ist es notwendig, die universalistischen Prinzipien der Aufklärung wieder zu verteidigen. Es ist eine große Ehre, in die Reihe der Preisträgerinnen und Preisträger aufgenommen zu werden.“
Studium in London und HarvardDie Publizistin und Autorin studierte Philosophie in London, Frankfurt sowie Harvard und promovierte über den Begriff „Kollektivere Identitäten“. Von 1999 bis 2014 arbeitete sie als internationale Reporterin mit Fokus auf Menschenrechten und Krisenregionen. Emcke berichtete unter anderem aus dem Kosovo, aus Afghanistan, Irak, Gaza, Kolumbien und Haiti. Seit 2014 ist sie als freie Publizistin tätig. In ihren Büchern, Essays, Kolumnen, aber auch mit künstlerischen Interventionen befasst sie sich mit den Themen Gewalt und Trauma, Demokratiefeindlichkeit und Rassismus, Sexualität und Begehren. Ihre Bücher wurden weltweit in über zehn Sprachen veröffentlicht – darunter „Gegen den Hass", „Weil es sagbar ist", „Wie wir begehren".
Wann kann Snowden kommen?Der Bürgerpreis „Glas der Vernunft“ wurde 1990 von Kasseler Bürgern gestiftet. Anlass war die Öffnung der DDR-Grenze im November 1989. Der mit 20.000 Euro dotierte Preis ist seither 33-mal sowohl an Wissenschaftler, Künstler, Politiker und Naturschützer als auch an Menschenrechts- und Hilfsorganisationen vergeben worden, die sich mit ihrem Wirken den Idealen der Aufklärung – Vernunft, Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Überwindung ideologischer Schranken – in besonderer Weise verdient gemacht haben.
Symbolisiert wird der Preis durch eine von Kunstprofessor und documenta-Künstler Karl Oskar Blase gestaltete Skulptur: das Glasprisma im Oktogon.
Während das Glas für Transparenz und Zerbrechlichkeit steht, deutet das Prisma auf die Aufklärung durch wissenschaftliche Analyse hin. Das Oktogon hat mit Vollkommenheit zu tun. Erster Preisträger war 1991 der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der die Auszeichnung für seine Verdienste um die Öffnung der innerdeutschen Grenze erhielt.
2016 wurde Edward Snowden geehrt. Der ehemalige CIA-Mitarbeiter hatte die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken von Geheimdiensten enthüllt, vor allem die der USA. Er konnte den Preis nicht in Empfang nehmen, weil er international mit Haftbefehl gesucht wird. Sein Glas befindet sich im Kasseler Stadtmuseum. „Es steht für die Hoffnung, dass es Snowden eines Tages als freier Mensch in Empfang nehmen kann“, so Prof. Wilfried Sommer.